Schuld und Trauma in der Familie

Verschlossene und versteckte Koffer der Familie

In einigen Familien gibt es Koffer voller Geheimnisse, aus denen unausgesprochene, zementierte Glaubenssätze resultieren, die Stress, ein Gewirr von Schuld- sowie Pflichtgefühlen und familiär Druck erzeugen.

Warum bleiben mir meine eigenen Gefühle fremd? Warum kann ich meiner eigenen Wahrnehmung nicht trauen? Warum fühlen sich Veränderungen bedrohlich an? Was lässt mich nachts nicht schlafen? Woher kommt meine Angst, die mich an mir selbst zweifeln lässt? 

Diese und weitere Fragen stellen sich Menschen, die in Familien heranwuchsen, in denen kindliche Seelen auf sich allein gestellt waren. Familien, in denen es wenig emotionale Zuwendung und Trost gab für die Kinder, da deren Eltern selbst untröstlich waren. Gefühle galt es zu unterdrücken, Funktionieren war ein Schlüssel zum Überleben. Die Kinder wuchsen infolge einer emotionalen Distanziertheit ihrer Eltern in einer tiefen Verunsicherung auf und mit dem Gefühl, „nicht richtig“ oder nicht gewollt zu sein.

Auf der Suche nach den Ursachen wird häufig der Einfluss der Familiengeschichte auf die eigene Biografie deutlich und nicht selten findet sich in den Familien jemand, der körperliche und/oder seelische Traumata erlitten hat.

Was sind Traumata?

Ein Trauma bedeutet eine psychische Ausnahmesituation, die eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen oder einer nahestehenden Person darstellen. Ausgelöst wird es durch überwältigende und plötzlich auftretende Ereignisse wie z. B.:

  • Gewalttaten (z. B. Vergewaltigung, Missbrauch),
  • Kriege,
  • Katastrophen,
  • Unfälle (z. B. beim Sport, im Straßenverkehr), aber auch Ereignisse in der Kindheit wie
  • Misshandlungen (körperlich, sexuell, emotional wie z. B. durch Manipulation, Erniedrigung, Beschimpfungen) oderVernachlässigungen (Nichterfüllung der grundlegenden Bedürfnisse eines Kindes).

Die meisten Menschen sind zunächst kaum in der Lage, solche Situationen „extremer“ Hilflosigkeit zu verarbeiten. Die üblichen Bewältigungsmechanismen reichen nicht aus – wörtlich stürzt eine Welt zusammen.

Ein Trauma ist eine lebensbedrohende Situation, in der das Gehirn alle unnötigen Wahrnehmungen und Handlungen stilllegt und Handlungen, wie Fluchtreflex oder auch Erstarren auslöst. Ein Trauma geschieht unerwartet – eine Vorbereitung ist daher nicht möglich. Betroffene Menschen sind Erfahrungen von extremer Angst, Kontrollverlust und Ohnmacht ausgesetzt.

Die Auswirkung des Traumas auf das Gehirn

Unterschiedliche Untersuchungen haben ergeben, dass das Gehirn direkt nach einem Trauma verändert ist. In der Regel bilden sich diese Veränderungen wieder zurück. War das Trauma übermäßig schwer oder wiederholt sich mehrmals über einen längeren Zeitraum, können diese Veränderungen länger anhalten und im ungünstigsten Fall auch dauerhafte Auswirkungen haben.

Während eines Traumas ist unser Gehirn überfordert. Die traumatischen Erlebnisse können nicht normal verarbeitet werden, sondern werden ungeordnet in unserem Gehirn gespeichert. Die unvollständige Verarbeitung der traumatischen Ereignisse hat oft verheerende Konsequenzen für die Betroffenen – es kommt zur posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), was bedeutet, dass unverarbeitete Traumatisierungen zum Wiedererleben von starken Emotionen und Körperempfindungen führen, welche den Eindruck vermitteln, dass das Trauma nochmal im „hier und jetzt“ stattfindet. Zu weiteren Traumafolgestörungen zählen u. a. Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen oder Suchterkrankungen.

Ein Trauma bedeutet für unseren Körper und die Seele Stress. Stress ist biologisch sinnvoll, jedoch wirken sich extremer und dauerhafter Stress nachteilig auf Körper und Seele aus.

Die Rucksäcke meiner Ahnen – Kriegstrauma nach über 75 Jahren?

Als die schlimmsten Verursacher von Traumafolgestörungen werden Kriege vermutet. Auch wenn so gut wie keine deutsche Familie von den Auswirkungen des Krieges verschont geblieben ist, war der Krieg 2020 bereits 75 Jahre her. Aber ist er damit längst Geschichte?

Inzwischen ist hinreichend bekannt, dass traumatische Erlebnisse auf die nachfolgende Generation übertragen werden können. Menschen, die im Krieg Flucht, Vertreibung, Bombennächten, Hunger, Vergewaltigung und anderen schweren Ereignissen ausgeliefert waren, hatten wiederum Kinder, die all das auch erlebten. Wie realistisch waren in diesen Zeiten Einfühlsamkeit und Trost angesichts des Überlebenskampfes? Für das Einfühlen in eigene und die kindlichen Seelen war wenig Platz und Zeit. Viele Menschen erlitten Traumata während des Krieges und in einigen Familien leben die Auswirkungen der körperlichen und seelischen Traumata fort.

Erinnerungen werden nicht vererbt

Neueste Forschungsergebnisse zeigen, dass es nicht möglich ist, Erinnerungen und damit innere Bilder z. B. der Großeltern aus dem Krieg der folgenden Generation weiterzugeben. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die intensiven Stressereignisse, die beispielsweise durch Erlebnisse auf der Flucht oder das Mitansehen/Beteiligtsein an Gewalttaten im Krieg molekular auf die Nachkommen übertragen werden können. Das bedeutet, das Erfahren von andauernden, lebensbedrohlichen Ereignissen kann in nachfolgende Generationen hineinwirken. Dabei wird nicht das Trauma selbst, sondern die Art und Weise seiner Verarbeitung und somit eine erhöhte Stressanfälligkeit, Nervosität und Sensitivität an die folgende Generation vermittelt.

Transgenerationale Epigenetik ist die Wissenschaft, die sich mit den Fragen der transgenerativen Weitergabe beschäftigt. Der Begriff "Epigenetik" ist zusammengesetzt aus den Wörtern Genetik und Epigenese, also der Entwicklung eines Lebewesens und ist ein Teilgebiet der Biologie. Epigenetik gilt als das Bindeglied zwischen Umwelteinflüssen und Genen und erklärt, unter welchen Umständen welches Gen angeschaltet wird und wann es wieder stumm wird.

Forschungsergebnisse zeigen, dass bis zur dritten Generation von Holocaust-Überlebenden oder auch bei Enkelkindern von Soldaten aus dem zweiten Weltkrieg epigenetische Spuren von Traumata nachgewiesen werden können, die zeigen, dass diese Menschen signifikant ängstlicher oder anfälliger für stressbedingte Krankheiten sind. Studien zum Hungerwinter nach Kriegsende machen deutlich, dass sich das Trauma einer ganzen Generation in der DNA wiederfinden kann: Die Nachfahren der hungernden Kinder scheinen für magere Zeiten gewappnet, da sie Zucker und Fett besser verwerten können.

Auch wenn noch ungeklärt ist, wie diese epigenetischen Veränderungen genau weitergegeben werden, legen Studien den Schluss nahe, dass wir mehr als nur Gene von unseren Eltern erben. Dies ist besonders interessant, da Störungen epigenetischer Mechanismen auch zu Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder Autoimmunerkrankungen führen können. Weiterführende Studien auf diesem Gebiet können vielleicht zu anderen neuartigen interdisziplinären Therapieansätzen führen, die epigenetische Prägungen mitberücksichtigen.

Familien als Hüter von Geheimnissen

"Wenn die Familie zusammen ist, ist die Seele an ihrem Platz“ – russisches Sprichwort

„....oder hat die Seele Stress! Ich fühle mich immer getrieben, nie genug. Obwohl ich viel erreicht habe in meinem Leben – zumindest bekomme ich das aus meinem Umfeld immer wieder gesagt – bin ich nicht zufrieden. Irgendwo anzukommen oder gar stolz auf mich zu sein, ist etwas, was ich noch nie gespürt habe. Mit Krisen und Katastrophen umzugehen, darin bin ich geübt, aber das gute Leben zu leben, fällt mir schwer “ (Heiko P., 58 Jahre)

Transgenerationale Weitergabe in Familien kann bedeuten, dass die nächste Generation versucht Leiden zu lösen, für die z. B. der Vater oder der Großvater keine Lösungen gefunden haben. Die Kinder haben gespürt, dass es ihren Eltern schlecht geht und vermuten die Verantwortung für das Wohlergehen der Eltern instinktiv bei sich. Durch Leistung, angepasstes Verhalten und Fürsorge versuchen sie den Erwartungen ihrer Eltern zu entsprechen. Im Vordergrund steht die Pflicht, nicht die Lust („Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“). Und dennoch, sie können das Leid der Eltern nicht heilen.

Kinder von kriegstraumatisierten Eltern wurden in der Regel nicht gespiegelt in ihren Qualitäten, sondern sie sollten sich so verhalten, wie die Eltern das aushalten konnten oder wollten - und weniger, wie sie wirklich sind. In vielen Familien, in denen die Kriegserlebnisse äußerst schwer waren und zudem unverarbeitet blieben, fühlen sich die Familienmitglieder häufig in einem Gewirr aus Schuldgefühlen, Dankbarkeit und Pflichtgefühl verstrickt. Die empfundene Loyalität gegenüber der Eltern- und Großelterngeneration führt zu einer starken emotionalen Bindung an das Elternhaus und das dort herrschende Wertesystem. Ablösungs- und Abgrenzungsversuche können starke Schuldgefühle hervorrufen.

Die beschriebenen Schwierigkeiten treffen sicherlich nicht auf alle Kinder zu, deren Eltern oder Großeltern Traumata erlebten. Es ist schwer, genau zu sagen, welche Defizite z. B. im Verhalten von Eltern auf Kriegserlebnisse zurückzuführen sind oder anderen Faktoren geschuldet sind.

"Es ist Zeit, die Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufzugeben." – Irvin Yalom

In den letzten Jahren fanden transgenerative Weitergabe von Traumata und die damit in Zusammenhang stehende epigenetische Forschung zunehmend Beachtung. Die positive Nachricht ist, sich den Ängsten und deren Ursachen zu stellen, kann verhindern, dass Traumata nicht in die nächste Generation weitergetragen werden. Hilfreich ist immer generationenübergreifend in den Dialog zu treten und sich auseinander zu setzen. Darüber und auch miteinander zu reden und somit das Schweigen zu brechen, ist der erste Schritt.

Es kann erleichtern, die Beziehung zu den Eltern zu akzeptieren, wie sie ist und den Versuch aufzugeben, die eigenen Eltern emotional erreichen zu wollen, etwas zu fordern, was die Eltern aus eigenem Mangel nicht geben können. Gleichzeitig gehört es dazu, die zwiespältigen Gefühle und Haltungen gegenüber den Eltern auszuhalten: Den Respekt für die Leistung der Eltern und das Wissen um das Unverzeihliche, was sie ihren Kindern zugemutet haben. Beides kann und darf gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Das Entdecken der eigenen Familiengeschichte ist immer gewinnbringend – auch wenn Wunden geöffnet oder eine aktive Auseinandersetzung nicht mehr möglich ist. Mit Hilfe verschiedener Methoden aus dem Koffer des systemischen Therapieansatzes kann es gelingen, ein eigenes selbst bestimmtes Leben zu führen.

 „Keiner weiß, wie das Leben geht, wir müssen es alle erst unterwegs herausfinden“ Gerald Hüther

Weiterführende Literatur:

Baer, Udo/Frick-Baer, Gabriele: Kriegserbe in der Seele - Was Kindern und Enkeln der Kriegsgeneration wirklich hilft. Beltz, Weinheim 2015.

Bode, Sabine: Kriegsenkel - Die Erben der vergessenen Generation. Klett-Cotta, Stuttgart. 6. Auflage, 2013.

Bode, Sabine: Die vergessene Generation - Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Klett-Cotta, Stuttgart. 13. Auflage, 2014.

Bode, Sabine: Nachkriegskinder - Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter. Klett-Cotta, Stuttgart. 5. Auflage, 2014.

Chamberlain, Sigrid: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS-Erziehungsbücher. Psychosozial, Gießen 1997, ISBN 978-3-930096-58-9.

Ermann, Michael: Wir Kriegskinder. In: Forum der Psychoanalyse. Nr. 2, 2004, S. 226 – 239.

Lohre, Matthias: Das Erbe der Kriegsenkel - Was das Schweigen der Eltern mit uns macht. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2016.

Rauwald, Marianne (Hrsg.): Vererbte Wunden. Transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen. 2 überarbeitete Auflage. Beltz, Weinheim 2020, ISBN 978-3-621-28756-2.

Reddemann, Luise: Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie. Folgen der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs erkennen und bearbeiten - Eine Annäherung. Klett-Cotta, Stuttgart 2015.

Riemann, Fritz: Grundformen der Angst. Ernst Reinhardt, München 1961.

Schmidbauer, Wolfgang: «Ich wußte nie, was mit Vater ist». Das Trauma des Krieges. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1998, ISBN 978-3-498-06331-3.

Es lohnt sich zudem, nach Dokumentationen, aktuellen Studien, Filmen sowie Interviews zu diesen Themen zu recherchieren. Sprechen Sie mich bei Interesse an, ich teile meinen Fundus gern mit Ihnen!